Kreuzberg:
Kneipe schlägt Lounge
Hauptfeind
Kaufhausmusik: Wirte in SO 36 machen mobil gegen die "Latte Macchiatisierung"
ihres Kiezes
Von Joachim Fahrun
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Gesine,
Webmasterin und Mit-Initiatorin von KIEZ UNITED, trug gemeinsam mit Häxä
wesentlich zum Erfolg des ersten Kiez-Events bei.
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Es gab Zeiten in Kreuzberg, da hätten
all die Cocktail-Lounges und Edel-Restaurants eines Nachts einen Gülle-Anschlag
erlitten. Der Kiez ist unser, raunte es durch die Szene, blöder Kommerz
soll draußen bleiben. Das alte SO 36 um das Kottbusser Tor wollte
das gallische Punk- und Krawall-Dorf bleiben, das im Schatten der Mauer
die bürgerlichen Rest-Berliner erschaudern ließ. Nicht nur am
1. Mai.
Mit den Jahren sind die Szene-Helden milder geworden, haben sich mit den
Mechanismen der Welt arrangiert. Der Zuzug der Musik-Fuzzis von MTV und
Universal in den neuerdings wieder schwer gefragten Kiez schreckt niemanden
mehr. Geld zu verdienen mit Kunst, Musik und Gastronomie finden nur noch
die ganz Harten verwerflich. |
Anstatt die böse
Welt zu bejammern, gehen die Veteranen in die Offensive: Die Initiative
"Kiez United"
(www.kiez-united.de) vereint am Sonnabend ab 18 Uhr 21 mehr oder weniger
alteingesessene Kneipen, Clubs, Galerien und Restaurants. Sie alle wollen
den Zauber handgemachter harter Musik, schräger Kiezkultur und persönlicher
Bewirtung dem Volke näherbringen und ein Zeichen gegen die "Latte
Macchiatisierung und Loungisierung" Kreuzbergs setzen. Dazu pendeln
nach dem Vorbild der großen Club- und Museums-Nächte sogar
Kleinbusse als "Kiez-Kutschen" zwischen Oranienplatz und Wiener
Straße.
Dabei sind Gasthäuser mit Eisbein auf der Karte wie das Max und Moritz
ebenso wie der Hip-Hop-Laden Tek und das Rock'n'Roll-Mekka "Wild
at Heart". Sie alle eint das gewisse Kreuzberg-Flair: das gelassene
Beharren gegen den aufgeregten Wandel, der Friedrichshain oder Prenzlauer
Berg erfaßt hat, wo die Studentenrudel die neuesten Moden suchen
und fast täglich neue, oft austauschbare Bars eröffnen. Alle
Teilnehmer lassen sich auch im Alltag regelmäßig kreative Aktionen
einfallen, Konzert, Kurzfilm oder Kabarett. "Ich möchte an jeder
Ecke eine Bühne für kreative Leute", schildert Gesine,
die das Projekt koordiniert, ihre Motivation.
"Ich vermisse das alte Kreuzberg", sagt Hexä. Die Initiatorin
von Kiez United
ist Chefin im Trinkteufel, einer legendären Kneipe an der Adalbertstraße,
die am Wochenende durchgehend offen hat, wo der halbe Liter Bier 1,60
Euro kostet und E-Gitarren im Schaufenster von den musikalischen Vorlieben
des Publikums künden. "Hier sind Punks und Anzugträger
willkommen", betont Hexä, die mittlerweile ein bißchen
älter als 29 ist und im Kiez als Kummerkasten und Kontaktbörse
hohes Ansehen genießt: "Wir sind zwar tätowiert und gepierct,
aber nicht schlimm."
Das alte Kreuzberg: Das hatte etwas von Familie, die in derben Lederjacken
an blanken Holztischen in Kneipen wie dem Franken oder dem Franziskaner
die Nächte durchsumpfte, wo in vielen dunklen Höhlen rauhe Bands
schrummelten und man sich auf engem Raum doch auch in Ruhe ließ.
Heute beklagen Mittdreißiger mit buntem Haar den Vormarsch der uniformen
Gastronomie-Kultur, die Ketten, die mit billigeren Preisen Kunden anlocken
können. Und die "Kaufhausmusik", Billigtechno aus der Konserve,
der viele der neueren Etablissements beschallt.
Was einst in Abgrenzung mündete, wird heute in eine Einladung gewendet:
"Es geht darum. Leute und weitere Läden mit an Bord zu nehmen",
erklärt Gesine. Auch Cocktail-
und Latte Macchiato-Lounges sollten leben. "Aber ich fürchte,
daß es sich irgendwann nicht mehr die Waage hält. Wir wollen,
daß das Nischenprogramm weiter existiert." Kiez
United soll alle drei Monate stattfinden.
Berliner Morgenpost
vom 30.09.2005
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