"OUT OF STANDARDS"
DIGITALE LOCHKAMERA-FOTOGRAFIE ALS KUNSTPROGRAMM
VON LASZLO KEREKES


Das Unvollkommene als Schönheit in der Zeit der Hochtechnologie


Digitale Lochkamera? Klingt wie ein Rückschritt, ist aber keiner.
Die digitale Lochkamera konnte nicht früher, sondern erst im Zeitalter der digitalen Technologie vorkommen. Ihre ketzerische Idee und ihre durch technisches Experimentieren verwirklichte Existenz zeigt eine paradigmatische Alternative, wobei der Ursprung - die analoge camera obscura, inklusive ihres immer noch lebenden Mythos - und das Medium der Fotografie an sich nicht in Frage gestellt werden.

Die digitale Lochkamera-Fotografie repräsentiert eine Philosophie und bedeutet die Synthese - wenn auch widersprüchlich - der gesamten Geschichte der Fotografie. Vielleicht ist in einem bestimmten Sinn auch die Geschichte ihrer Zukunft zu erahnen.

Mit der Methode, die ich "Recycling Memory" nennen möchte, habe ich durch radikalen Umbau einer heutigen einfachen Fix-Fokus-Kamera die Vergangenheit neu mit futuristischem Reflex interpretiert.
Gleichzeitig aber könnte man an dieser Stelle Diskurs anregend über "Retroaktive Technologie" oder andererseits über "Romantisierung der Technologie" reden.

Es scheint so, dass der Überfluss der Bilder in der digitalen Epoche aus einer neuartigen visuellen - und nicht nur visuellen - Wahrnehmung der Realität resultiert. Dies hat selbstverständlich auch die Fotografie als Kunst tief beeinflusst. Die Wiedergabe der Wirklichkeit(en) wurde zum ständigen Prozess. Die Kamera in der Hand ist Tag und Nacht allgegenwärtig präsent. Dem fotografierenden Künstler ist dadurch eine bestimmte Emanzipation von dem traditionellen Verhalten gegeben und er kann sich dabei in der Mitte der Bilderflut und Schnelligkeit nicht mehr verpflichten, seinen "erkennbaren" Stil und Sprache für immer und ewig dogmatisch aufzubauen. Es herrschen jetzt die sofortrelativierenden Regeln der fließend vergänglichen Vielfalt: Die digitale mediale Expansion zeigt uns in jeder Minute wie komplex unsere unbegreifbar sich transformierende Welt (geworden) ist. Dadurch hat nicht nur die "Ganzheit", sondern auch das "Detail" oder das "Fragment" eine neue Rolle im Bewusstsein bekommen. Das "passing through" des fotografierenden Künstlers wurde als unbegrenzte Möglichkeit des spontanen "Knipsens" revolutioniert. Knipsen wahllos oder vielleicht doch nicht, fast alles wird aufgenommen, permanent, und wird für den kürzesten Moment verewigten Augenblick als - schnell löschbare - Datei gespeichert. Es gibt kaum einen wahren Unterschied mehr zwischen dem Wert des Augenblicks und der Aufnahme.

Doch aus der Menge des fast schon organischen Materials werden immer wieder einige Bilder nach kurzfristig geltenden subjektiven Kriterien herausgenommen - wie der Künstler gerade die Welt sieht und wie er sie versteht.

Die Fotografie und die Malerei teilt von Anfang an nur ein Schritt. Es geht um zwei miteinander verbundene, korrespondierende Disziplinen. In dem Kontext gesehen steht wie bei meiner Malerei als auch bei den Serien meiner digitalen camera-obscura-Fotografien die Kennzeichnung der Konzentration und die Übertragung der universellen Energie im Vordergrund. Meine Fotografien sind weitwinklig, sie begreifen immer einen breiteren Raumabschnitt, in dem die Energie des Sonnenlichts auf unterschiedliche Weise aufgefangen und dargestellt wird. Die Elemente des bestrahlten Raums, der Landschaften und Stadtlandschaften mit Objekten oder Menschenfiguren reflektieren direkt oder indirekt die Kraft des Lichts am stärksten bei intensiver Sonne. Dabei entstehen oft Lichtornamente - aufgefangene Spuren der reinen Lichtenergie.

Alle Fotografien und Bilder haben stets lesbare, nicht allein thematisch-inhaltliche Bedeutungen auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Der Schlüssel meiner Fotografie sind deshalb die konzeptuell-programmatischen Aufnahmen, die auf elementarste Weise meinen auf die Umgebung fallenden, nur immateriell existierenden, Schatten zeigen.

Einige dieser archetypischen ikonographischen Motive realisiere ich später als korrespondierende Acrylbilder. Durch eine eigene Farbstruktur und durch die Reduktion der Formen wird die spirituelle Substanz der ursprünglichen fotografischen Aufnahmen in einer malerisch definierten Dimension versinnlicht.

Die digitale Lochkamera nimmt die Motive der Realität unvorstellbar schnell auf, aber wegen ihrer Natur kann sie nicht perfekte Fotos liefern. Im Gegenteil, es ist nicht die Bestrebung ihrer Anwendung. Sie macht nicht "gute", nicht "bessere" oder vielleicht "schlechtere" Fotos: Sie ermöglicht einfach eine "andere Fotografie".

Sie ist eine Herausforderung an sich. Ich lehne nicht die Technologie ab, ich arbeite mit die Technologie. Deshalb habe ich gerade eine digitale camera obscura, genauer gesagt eine digitale Weitwinkel-Lochkamera als Künstler für Zwecke meiner eigenen künstlerischen Arbeit im Jahr 2005 konstruiert. Diese besondere und nach vorliegenden Informationen höchstwahrscheinlich weltweit einzigartige camera obscura der neuen Zeit funktioniert wie ihr historischer analoger Vorgänger absolut ohne Linse. Die filmbasierte und die sensorbasierte digitale Lochkamera fotografieren zwar prinzipiell gleich, sind technisch aber völlig unterschiedlich aufgebaut: Bei der digitalen geht es um die bildgebende Leistung des direkt durch das Loch belichteten Chips, der auf das Licht unvorhersehbar reagiert. Das Objektiv wurde entfernt und ein kleines Loch in Aluminiumfolie direkt vor dem CCD-Sensor positioniert.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Meine Kamera darf nicht mit "pinhole-body-caps" (Gehäusedeckel mit Loch) verwechselt werden: "Body-caps" erzeugen tele-objektiv-ähnliche Lochkamera-Effekte und werden anstelle eines regulären Objektivs auf den Body von digitalen Spiegelreflexkameras als Zusatzteile aufgesteckt.

Im Gegensatz dazu ist meine Kamera eine echte Lochkamera, weil sie aufgrund ihres Aufbaus ausschließlich Lochkamera ist und nur Lochkamera sein kann - diesmal digital.

Sie ist durch einen sehr aufwändigen, radikalen Umbau einer digitalen Fix-Fokus Kompaktkamera konstruiert. Mit dieser Kamera ist es mir gelungen, unmittelbar Fotos aufzunehmen, die mit keiner anderen Kamera fotografiert werden können. In einer Weiterentwicklung konnte ich trotz der relativ schwachen Lichtstärke neben statischen Motiven erstmalig auch kurze Sequenzen von bewegten Bildern, also "Lochkamera-Filme", aufnehmen.

Meine fotografischen Arbeiten sind nicht durch Montage und Verfremdung mit einem Bildbearbeitungsprogramm entstanden. Diese digitalen Lochkamera-Fotografien besitzen eine ungewöhnliche Ästhetik durch die spezifische Unschärfe und durch andere typische, prägende Eigenschaften. Obwohl elektronisch aufgenommen, haben sie einen einzigartigen malerischen Charakter - unvollkommen und magisch. Einige erinnern an frühe Daguerrotypien. Die Figuren, Objekte, urbane und Freiraum-Landschaften haben etwas Geisterhaftes, Schemen in einer Sphäre zwischen Licht und Schatten. In einigen meiner Fotos sind intensive Reflexionen des konzentrierten Lichts zu sehen, die nur mit meiner selbstgebauten digitalen Lochkamera aufnehmbar sind (kontrollierter Zufall). Außerdem erlaubt die digitale Lochkamera die Benutzung einiger Farbfilter für die Aufnahme mit beeinflusstem Kolorit und konstruktivistisch wirkenden Bildkompositionen.

Die Unschärfe ist eine der wichtigsten Eigenschaften der Fotografien der digitalen camera obscura. Man denkt an dieser Stelle gerne an die frühen Heliografien von Nipce.
Die Fotos der digitalen Lochkamera sind nicht unscharf im Sinne von "out of focus", sondern durch eine Überstrahlung des Sensors hervorgerufen. Deshalb entsteht ein optisches Phänomen wie beim Benutzen von Weichzeichner-Filtern in der analogen Fotografie. Das Objektiv bündelt das Licht, jeder scharfe Punkt wird überstrahlt. Das Bild ist fokussiert, aber die große Menge des Lichts erzeugt einen "Halo-Effekt". Ein Beispiel ist die Nachtaufnahme einer Laterne.

Sie bedeuten für mich spirituell eine eigene Weiterentwicklung der Lichtbild gebenden Experimente, die in der Zeit der Frühavantgarde parallel mit der konventionellen Fotografie als technisch-künstlerische Alternative in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden sind.

Der Sensor reagiert auf das Licht eigenwillig. Beeinflusst von den jeweils herrschenden Lichtbedingungen bekommen viele digitale Lochkamera-Fotos einen rötlich-violetten Farbstich unterschiedlicher Intensität. Diese Besonderheit entsteht durch das Entfernen des Objektivs mit seinem eingebauten IR-Sperrfilter.

Eine spezifische Lebendigkeit bringen auf den digitalen Lochkamera-Fotos "Flecken" von Fusseln und Staub, die von dem elektrostatisch aufgeladenen Sensor aufgefangen werden, wie eigentlich bei allen Digitalkameras. Bei den Aufnahmen mit meiner kompakten digitalen Lochkamera werden diese Partikel sichtbar aufgrund der optischen Wirkung des geringen Lochdurchmessers. Die von Fusseln auf dem Sensor verursachten Flecken sind Teil der authentischen Entstehungsgeschichte der digitalen Lochkamera-Fotos. Denn diese nach heutigen Normen "unsterilen" oder sogar "anti-sterilen" Bilder erinnern an die analoge Fotografie. Die Partikel können mithilfe Computerbearbeitung minimiert oder entfernt werden, was ich bei einigen Serien gemacht habe.

In der Zeit der großen Umwandlung von der analogen in die digitale Fotografie wird von Traditionalisten nicht nur gerne behauptet, dass "schon alles fotografiert ist", sondern auch, dass in der fotografischen Kunst "schon alle Experimente gemacht sind". Deshalb drehe ich mit meiner selbstkonstruierten digitalen Lochkamera in der Hand die These um und bleibe offen nicht nur für ästhetische Fragen, sondern auch für technische Fragen, die noch nicht ganz eindeutig beantwortet sein können. Was kann - technisch gesehen - eine digitale Lochkamera machen, das eine analoge nicht kann? Welches sind die eigentlich brauchbaren Vorteile und was die Nachteile, welches sind die Schwächen?

Die Unterschiede digitale Lochkamera gegenüber analoger Lochkamera
  • Die spektrale Empfindlichkeit des Sensors. Der IR-Bereich hat eine Empfindlichkeit, die das analoge Filmmaterial nicht hat.
  • Die Lichtempfindlichkeit ist größer, weil der Sensor sehr klein ist.
  • Die digitale Lochkamera ist mit Monitor ausgestattet. Das aufzunehmende Bild ist im Monitor kontrollierbar, wichtig für die Bildkomposition. Ebenso der genaue Moment der Belichtung. Man sieht, wie Lichtreflexionen entstehen und erkennt die Wirkung von Farbfiltern.
  • Die kleine Brennweite und der kleine Sensor ergeben eine kurze Belichtungszeit, die durch die Kamera automatisch geregelt wird. Ideal für die Aufnahme von bewegten Menschen, Fahrzeugen, etc.
  • Die digitale Lochkamera kann nicht nur statische Bilder, sondern auch Lochkamera-Filme aufnehmen.
  • Die Aufnahmen haben eine unverwechselbare Identität. Die digitalen Lochkamera-Aufnahmen sind einzigartig. Sie sind nicht wiederholbar, weil der Sensor ultra-sensitiv auf die einmalig gegebenen Situationen des Lichts reagiert.
  • Die Aufnahmen zeigen eine Unschärfe, die durch die geringe Größe des Sensors bedingt ist (Zusammenhang zwischen Abstand des Lochs und Projektionsfläche).
  • Es entstehen keine natürlichen Farben, weil der IR-Sperrfilter zusammen mit dem Objektiv entfernt wurde.
  • Die Fusseln und Staubpartikel auf der elektrostatisch aufgeladenen Oberfläche des Sensors sind als Bildflecken sichtbar.



Weitere Informationen (mit Beispielfotos) im Internet:
www.see.yourweb.de/digitalpinhole.
Dort sind Beispiele meiner digitalen Lochkamera-Bilder zu sehen. Gleichzeitig findet man ein ausführliches Essay in englischer Sprache über meine Technik, meine Kamera und künstlerische Sichtweise sowie zwei Kurzfilme, die mit meiner Lochkamera aufgenommen sind.

© Laszlo Kerekes / Berlin / Juli 2009

R e f e r e n z e n:

Jon Grepstad > http://home.online.no/~gjon/pinhole.htm
"Pinhole Day" > http://pinholeday.org
Fotografia Pinhole by Gimez > http://pinhole-gimez.blogspot.com